Meine Kurzgeschichten

Es bleibt spannend, bald kommen neue Geschichten dazu.  

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Diese Geschichte ist wahr, auch wenn sie ein wenig phantastisch klingt.

Ich stehe mit meinem Taxi auf St. Pauli, alleine vor einem namhaften, guten Hotel. Der Tag und somit meine Schicht neigt sich langsam dem Ende. Einen Fahrgast hätte ich jedoch noch gerne.

Hinter mir fährt eine weitere Taxe auf den Posten. Die Tür geht auf und eine Frau mit grauen, kurzen Haaren, ich schätze sie auf Anfang sechzig, steigt aus. Sie trägt eine große Umhängetasche über der Schulter. Für mich ist die Situation eindeutig, ein Kollege setzt einen Fahrgast vor dem Hotel ab. Die Dame winkt zum Abschied. Ich widme mich wieder meinem Buch, denn ich überbrücke die Wartezeiten gerne mit Lesen.

Auf einmal klopft es auf der Beifahrerseite an die Scheibe. Ich blicke auf. Vor meinem Auto steht die grauhaarige Dame, die vor nicht einmal einer Minute aus dem anderen Taxi gestiegen war.

Sie lächelt, und ich gehe davon aus, dass sie eine Frage hat. Ich lasse die Scheibe herunter und sage freundlich: „Kann ich Ihnen helfen?“

„Sind Sie frei?“

Damit habe ich nun gar nicht gerechnet. „Äh… Ja, bin ich.“

Ich mache Anstalten aus dem Wagen zu steigen, um der Dame, wie ich es immer tue, behilflich zu sein, doch sie winkt nur ab und sagt: „Bitte, bleiben Sie sitzen!“

Gut, dann bleibe ich da, wo ich bin.

Sie steigt ein, fährt den Sitz ganz zurück, positioniert ihre Tasche zwischen ihren Beinen, schnallt sich an und blickt zufrieden lächelnd aus der Frontscheibe, sagt jedoch kein weiteres Wort.

Mich hat die Neugierde gepackt. „Hat mein Kollege Sie versehentlich vor dem falschen Hotel abgesetzt?“

Sie wendet sich mir zu. Meine Vermutung mit dem Alter würde ich an dieser Stelle wiederholen, ihre Ausstrahlung ist frisch und vital. Sie lächelt und dieses Lächeln erhellt das ganze Gesicht. Sie ist sehr schlank, ohne dabei dürr zu wirken. Die Haut ist wettergegerbt, aber dennoch nicht ledrig. Am auffallendsten sind die ganz klaren, hellen Augen, in welchen sich ihr Lächeln widerspiegelt.

Sie schaut mir direkt ins Gesicht und antwortet: „Ach, weißt du, Schätzchen, ich war der Meinung, meine Arbeit da ist getan, und ich bräuchte einen neuen Gesprächspartner.“

Das Fahrgäste nach einer Weile immer vertraulicher werden, ist nichts Neues, aber der Umschwung von „Sie“ auf „du“ und „Schätzchen“ verblüffte mich nun doch. Ganz der Profi, lächele ich diese kurze Unsicherheit weg und versuche mich auf meinen neuen Gast einzustellen. Jeder Mensch ist anders und als Taxifahrer hat man meistens nur einen kurzen Moment, um seinen Fahrgast einzuschätzen. Es ist alles nur Übung. Meine Einschätzung: Nett, harmlos, etwas eigentümlich und möchte sich unterhalten. Gut, das kann ich auch.

Ich lächele, schalte den Plauderton an und gehe über zur Routine: „Wohin darf ich Sie denn fahren?“

„Fahr doch erstmal los.“

Ich starte den Wagen und rolle vom Posten. Sie gibt mir nur ein Zeichen mit der Hand, ich solle geradeaus fahren. Ich folge.

Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann ist es, kein Ziel zu haben. Ich überlege, wie ich die Information erhalte, ohne zu sehr zu drängeln. Wir kommen an eine große Kreuzung, die Ampel ist rot. Ich räuspere mich und setze vorsichtig an: „Es wäre sehr hilfreich für mich, wenn ich ungefähr die grobe Richtung wüsste.“

„Wir müssen der Sonne hinterher.“

„Wie bitte?“ Ich muss mich verhört haben.

„Wir müssen der Sonne hinterher.“ Bekomme ich die gleiche Ansage.

‚Macht sie Witze? Vielleicht will sie mich ein wenig auf den Arm nehmen?‘

„Das wird auf Dauer schwierig, denn die Sonne geht gleich unter“, erwidere ich scherzhaft.

„Ich weiß. Wir müssen der Sonne hinterher, sie einfangen, stellen und ihr dann den Rücken zukehren, dann geht sie wieder auf.“ Ich ahne sofort, dass ist ihr voller Ernst.

Taxifahrer haben drei unumstößliche Pflichten, neben der Tarif- und Betriebspflicht gibt es noch die Beförderungspflicht. Grundsätzlich muss jedermann im Pflichtfahrgebiet befördert werden. Außer er stellt eine Gefahr für sich oder andere dar, das gilt natürlich auch für mich und mein Fahrzeug. Doch das Einzige was für mich gerade stark gefährdet scheint, sind meine Nerven.

Meine Sonnenanbeterin sucht meinen Blick. Ich gucke sie an und sie lächelt. Ich denke: ‚Nun gut, immerhin eine nette Verrückte.‘ Ich nicke und füge mich in mein Schicksal.

Ihr Lächeln wird daraufhin noch breiter. Sie guckt wieder aus der Frontscheibe und zeigt tatsächlich in Richtung Sonne. So fahren wir gemeinsam nach Westen. Und wer weiß, wohin noch.

Wir fangen an uns zu unterhalten. Belanglose Sachen, nichts Besonderes, über Bücher, Filme und Essen. Um die Themen Wetter und Politik machen wir einen großen Bogen.

Gerade als ich anfange mir um unser Fahrziel und den Geisteszustand meiner Kundin keine Sorgen mehr zu machen, fängt sie an, sich durch die Hose ihre Schienbeine zu kratzen.

„Ach, Schätzchen, die Haut an den Schienbeinen ist so dünn und trocken. Nach einer Weile fangen sie bei mir immer an zu jucken.“ Sie kratzt weiter.

„Ja, ich verstehe, was Sie meinen, da sind auch so gut wie keine Fettzellen drunter.“ Ich finde meine Antwort nicht sonderlich originell, aber ich habe das Bedürfnis, das Gespräch am Leben zu halten.

„Richtig“, antwortet sie kurz und fängt an in ihrer Tasche zwischen ihren Beinen zu wühlen. Halb mit dem Kopf in der Tasche murmelt sie: „Es gibt auch nur eine Sache, die wirklich bei trockener, juckender Haut hilft.“

„Das wäre?“

„Sahne!“

‚Warum muss ich bloß immer so neugierig sein? Ich muss doch nicht alles wissen. Nun ist es zu spät.‘

Ich hole tief Luft und wiederhole: „Sahne?“

„Genau.“ Mit diesem Wort taucht meine Sonnenanbeterin freudestrahlend aus dem Fußraum auf und hält tatsächlich eine kleine Plastikflasche Schlagsahne in der Hand. Eine handelsübliche Sorte von einem uns bekannten Hersteller, der uns sagt, er liebe das Land.

Sie klemmt die Flasche zwischen ihre Beine und krempelt ihre Hose hoch. Mein Blick wandert unablässig zwischen ihren nackten Beinen und der Fahrbahn hin und her. Dann öffnet sie den Verschluss, kippt sich die weiße Flüssigkeit auf die Hand und schmiert sich tatsächlich hier in meinem Auto ihre Beine mit Sahne ein. Ich bin sprachlos. Das Einzige, was mir jetzt nur noch durch den Kopf geht, ist: ‚Wehe du kleckerst!‘

Ich atme einmal tief durch und beschließe, mir das Elend nicht weiter anzusehen. Ich konzentriere mich lieber auf den Verkehr.

Das klassische Geräusch eines Schraubverschlusses signalisiert mir, sie ist fertig. Vorsichtig schiele ich zum Beifahrersitze und erwarte im Stillen eine kleine Sauerei. Doch, oh Wunder, es ist alles sauber. Die Hosenbeine sind noch oben, wahrscheinlich ist die Sahne noch nicht eingezogen.

Plötzlich klopft sie leicht auf meinen rechten Unterarm und sagt: „Schätzchen, sei so lieb und fahr hier bitte auf die Autobahn.“

‚Auf die Autobahn?! Ach, du liebe Sch… Das ist nicht gut.‘

Doch was soll ich machen, Kunde ist König, und ich tue wie mir geheißen. Ich fahre auf die A7 in Richtung Hannover.

Im Elbtunnel gucke ich auf mein Taxameter. Es sind bereits über zwanzig Euro angefallen.

Langsam drängt sich mir die, wie ich finde, berechtigte Frage auf: ‚Hat Frau Sonnenanbeterin neben ihrem Verstand vielleicht auch ihre Geldbörse verloren?‘

Ich beschließe, der Frage auf den Grund zu gehen, denn es wäre mehr als übel, wenn wir in Hannover ankämen und erst dort feststellen würden, dass es vielleicht eine nette Fahrt war, aber mir nicht mehr als einen feuchten Händedruck bringt.

‚Okay, wie erfahre ich auf diplomatische Art und Weise etwas über die Liquidität meines Fahrgastes?‘ Ich hasse solche Gespräche.

„Äh, darf ich erwähnen, dass die Fahrt ganz schön teuer werden kann?“ Ich möchte gar nicht behaupten, dass das gerade wahnsinnig eloquent war, eher subtil, aber jetzt ist es raus. Aufmerksam versuche ich die Reaktion meiner Sitznachbarin zu studieren. Doch sie fragt nur: „Was kostet die Fahrt denn bis jetzt?“

„Einundzwanzig Euro achtzig.“

Sie schmunzelt und fragt mich: „Ist das teuer für dich?“

Ich bin verunsichert, da ich nicht erahnen kann, welche Richtung dieses Frage-Antwort-Spiel einschlagen wird. Doch mit der Wahrheit kommt man immer noch am weitesten, so antworte ich kurz und knapp: „Ja.“

Und wieder trifft mich ihr unergründlicher, lächelnder Blick während sie sagt: „Glaube mir, Schätzchen, das ist gar nichts.“

‚Okay, ich bin mehrere Meter tief unter einem Fluss in einem Autobahntunnel mit einer alten Frau, die eindeutig nicht nur verrückt, sondern auch pleite ist. Es wird irgendwie nicht besser.‘

„Die nächste Abfahrt fahre bitte ab.“

Wir kommen aus dem Tunnel und fahren Waltershof ab. Erleichterung macht sich bei mir breit. So lange wir Hamburg nicht verlassen, sind wir auf mir bekannten Terrain, und ich habe die Sicherheit, dass das Ganze nicht in einem wirtschaftlichen Desaster endet. Ich rechne nicht damit, dass sie mir schaden könnte, aber ich rechne definitiv nicht mehr damit, ich könne für diese Fahrt geldlich entlohnt werden. Genau diese Einschätzung der Lage sorgt dafür, dass ich mich entspanne, und beschließe, mich überraschen zu lassen, wie und wo diese Fahrt enden wird.

Der Himmel färbt sich langsam orange. Die Sonne selbst ist nur noch als schmale Sichel zu erkennen.

„Wo soll ich langfahren?“

„Fahre einfach geradeaus. Ich gebe dir ein Zeichen, wenn ich möchte, dass du abbiegst.“

„Dann halte ich es wie in der Fahrschule: Wenn nichts gesagt wird, dann weiter geradeaus.“

Sie lacht und meint: „So ist es recht, Schätzchen.“

An das Wort „Schätzchen“ habe ich mich irgendwie gewöhnt, und irgendwie ist es aus ihrem Mund richtig nett. Es vermittelt mir das Gefühl von Vertrautheit. Als wäre sie die nette alte Dame aus der Nachbarschaft, die man schon ewig kennt.

Tatsächlich bekomme ich diverse Anweisungen, wo ich langfahren soll. Ihre Handzeichen wirken beiläufig, doch bin ich fast sicher, dass sie genau weiß, wohin sie möchte, sie kann es nur nicht benennen.

Wieder fängt sie an, in ihrer großen Tasche zu wühlen. Ich erwarte, dass sie erneut nach der Sahne sucht, stattdessen kommen ein Tuch und eine Orange zum Vorschein. Das Tuch wird fein säuberlich auf ihrem Schoß ausgebreitet, dann sehe ich nur noch aus dem Augenwinkel, wie sie ihren Daumen in die feste Schale drückt. Sofort macht sich der frische Geruch, der Zitrusfrüchten so eigen ist, in der kleinen Fahrerkabine breit. Die Frucht ist so reif, dass ihr der helle Saft über die Hände läuft und auf ihren Schoß tropft. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.

Als sie mit dem Schälen fertig ist, bricht sie das Fruchtfleisch auf, was nicht weniger saftig ist und hält mir einen Schnitzer entgegen. „Möchtest du auch ein Stück?“

Ihre Hand ist nass und klebrig vom Saft und von der Sahne, wie ich mich nur zu gut erinnere. Und wer weiß, was sie sonst so vorher noch mit dieser Hand gemacht hat.

Ich versuche es daher mit einem höflichen: „Nein, danke.“

„Wieso denn nicht? Sie ist ganz süß und sehr gesund!“

‚Denk nach! Wie kommst du aus dieser Nummer jetzt am einfachsten raus? Mein Hirn arbeitet auf Hochtouren. Wie reagieren geistig gestörte Menschen, wenn sie sich beleidigt fühlen?‘

„Äh,… Ich habe eine Allergie gegen Zitrusfrüchte“, stammle ich vor mich hin. Jetzt ist es raus, mal gucken, was kommt.

Frau Ich-habe-nicht-mehr-alle-Latten-am-Zaun mustert mich kurz, sagt dann aber: „Ach, das tut mir leid, dann eben nicht.“ Und fängt an, ihre Orange zu genießen. Auch dieses Mal alles, ohne den Wagen von innen einzusauen.

Plötzlich ruft sie: „Bitte, fahre hier rechts ran!“ Wir sind mitten im Nirgendwo, es ist nicht schwer sofort zu halten.

„Ich möchte hier kurz aussteigen, ist das in Ordnung für dich, Schätzchen?“

„Ja, ist kein Problem.“

Sie öffnet die Autotür und steigt aus. Die Tasche lässt sie im Fußraum stehen, damit ist mir klar, sie plant, auch wieder einzusteigen und nicht einfach wegzulaufen. Ich ziehe den Schlüssel ab, nehme mein Handy an mich und steige ebenfalls aus.

Wir stehen vor einer riesengroßen Fläche Brachland bzw. zukünftiges Bauland. In unserem Rücken befindet sich nur Industrie. Die Luft ist kühl und ganz klar. Der Himmel zeigt sich in einem tiefen Orangeton. ‚Morgen gibt es bestimmt schönes Wetter.‘

Ich trete zu der Dame. Sie steht da, am Rand von diesem leeren Fleckchen Erde, und das ganze Gesicht strahlt. ‚Was sieht sie, was ich nicht sehe?‘ Ich folge ihrem Blick. Doch da ist nichts. Hier und da wuchert etwas Unkraut und Gras. Und ganz in der Ferne ist der Turm einer kleinen Kirche zu erkennen. Mehr nicht. Doch sie lässt ihren Blick schweifen, als würde sie ganz viel wiedererkennen.

Langsam schwindet das Licht. Ich kann nicht sagen, wie lange wir hier schon stehen. Es ist ganz still und friedlich. Wieder gucke ich sie an. So muss jemand aussehen, der seinen Frieden findet. Ich kann nicht anders und frage sie: „Und? Haben wir die Sonne gestellt?“

„Ja, haben wir“, antwortet sie mir. Und wie ich sie so ansehe, fange ich an sie zu verstehen, denn bei diesen Worten ging bei ihr im Gesicht, die Sonne wieder auf.

Und dann fügt sie hinzu: „Das wird hier alles Weltkulturerbe!“ Dabei schwingt sie ihren Arm im großen Bogen, um auch alles von diesem kahlen Stück Land mit einzubeziehen.

‚Doch einen Sprung in der Schüssel.‘ Ich schmunzle still in mich hinein. Wenn da gerade etwas wie ein Zauber war, dann ist er jetzt verflogen.

Sie holt nochmal tief Luft, schließt kurz die Augen und sagt: „So, wir können wieder fahren.“ Kaum gesagt, sitzt sie auch schon wieder im Auto. Ich folge ihrem Beispiel und wir fahren los.

Genauso zielsicher wie sie mich hin gelotst hat, führt sie mich auch zurück. Wir fahren über die Köhlbrandbrücke in die Hafen City.

„Weißt du was, ich möchte mir gerne etwas Gutes tun. Ein bisschen Wellness wäre jetzt schön. Fahre mich bitte in die Innenstadt.“

Zum ersten Mal seit Beginn dieser Fahrt, habe ich ein Ziel vor Augen. Endlich kann ich selbst einen Weg einschlagen.

„Ach, warte mal, Schätzchen, fahre mich doch bitte gleich zum Hotel, die haben da auch einen schönen Spa-Bereich.“ Sie nennt mir den Namen, es ist aber nicht das, vor dem unsere Fahrt begann. Ich wundere mich heute über nichts mehr.

Wir fahren beim Hotel vor, und es kommt der Moment, wo ich mich die ganze Zeit gefragt habe, wie er wohl aussehen mag. Steigt sie aus und rennt weg? Steigt sie aus, erzählt mir noch eine drollige Geschichte und macht dann einen Schuh?

Ich stelle den Motor ab, lehne mich zurück und warte ab, was nun passiert.

Die Frau verschwindet wieder halbwegs in ihrer großen Tasche. Zum ersten Mal wird mir bewusst, dass wir vor einem Hotel stehen, sie aber gar kein Koffer bei sich hat. Es muss wohl alles in dieser Tasche sein. Sie taucht auf und hält eine Parfumflasche in der Hand, welche sie auch gleich benutzt. Eine Wolke von „4812“ oder was auch immer hüllt uns ein. Der Flacon verschwindet wieder, es soll zum Glück kein Tauschgeschäft werden. Sie wühlt weiter, sie sucht etwas.

‚Bitte lass es ein Portemonnaie sein!‘

Sie taucht auf und hält einen Briefumschlag in der Hand. Auf ihm ist klar und deutlich das Logo einer ganz bekannten Bank zu erkennen. Sie öffnet ihn, und mir stockt der Atem. Er ist prall gefüllt mit Geldscheinen, hauptsächlich großen.

„Wieviel macht das?“

Ich nenne ihr den Preis, den das Taxameter anzeigt. Sie entnimmt dem Umschlag die Scheine entsprechend, drückt sie mir in die Hand, lächelt und sagt: „Stimmt so.“

„Vielen Dank.“ Ich bin sprachlos. Es gibt sogar Trinkgeld.

Auf einmal fragt sie mich: „Was denkst du, mache ich beruflich?

Ich zucke nur mit den Schultern und sage: „Ich habe keine Ahnung.“

„Ich bin Putzfrau.“

„Ach, Putzfrau! Meine Mutter war früher auch als Putzfrau tätig. Als Teenager habe ich ihr häufig dabei geholfen.“

Und da ist es wieder, dieses unergründliche Lächeln. Sie streichelt mir kurz über die Wange und sagt: „Nein, so eine Putzfrau bin ich nicht.“ Dann steigt sie aus und verschwindet im Hotel.

Ich starte den Motor und mache mich auf den Heimweg.

Auf der Fahrt habe ich das unbestimmte Gefühl, dass irgendetwas in mir nachhallt, aber ich kann nicht greifen, was. Ich bin da, aber auch irgendwie nicht. Als ob ich neben mir stünde.

Doch eines ist mir ganz klar, diese Fahrt werde ich nie vergessen.

Es ist Feierabend, und ich beschließe einem namenhaften Geschäft, welches für Betten, Möbel und vieles mehr bekannt ist, einen Besuch abzustatten. Manche Dinge schiebt man gerne auf, besonders wenn sie nicht Spaß bringen, lecker schmecken oder spannend aussehen. Ich bin guter Dinge und fest der Annahme, dass ich dort für mein Vorhaben an der richtigen Adresse bin und ich es schnell hinter mich bringen kann. Schließlich sind sie laut ihres Werbeversprechens ein Fachgeschäft mit großer Auswahl und fairen Preisen.

Ich stürme also in den Laden und werde ad hoc entschleunigt. Ein Mitarbeiter steht hinter dem Kassentresen, er sieht kurz von einem Blatt Papier zu mir auf, registriert mich und lässt seinen Blick wieder sinken. Eine Kollegin von ihm schlendert mit den Armen hinter dem Rücken durch den Gang und schaut aus dem Schaufenster. Es war sofort klar, hier ticken die Uhren anders. Da der junge Mann weiterhin den Anschein erweckt, er würde schwer beschäftigt sein, beschließe ich die junge Dame anzusprechen. Ich räuspere mich kurz und sage mit gedämpfter Stimme: „Entschuldigen Sie bitte.“

Die Angestellte bleibt stehen und wendet sich mir zu. Vor mir steht eine junge, dunkelhäutige Frau mit langen Rastazöpfen, perfekt geschminkt und mit einem akkuraten Lidstrich, für den ich sie beneide. Ihre rehbraunen Augen starren mich erschrocken an. Ich muss sofort an die Augen eben eines solchen Tieres denken, nachts mitten auf der Landstraße im Scheinwerferlicht eines heranrasenden Fahrzeugs. ‚Keine Gnade‘, denke ich mir und rede weiter, denn ich möchte nach einem langen Arbeitstag nur noch nach Haus. „Ich würde gerne ein Kopfkissen kaufen.“

„Ein Kopfkissen?“ Kaum zu fassen, aber ihre Augen werden noch größer.

„Ja, ein Kopfkissen.“ Ich komme mir etwas albern vor, dass ich meinem Wunsch in einem Bettenfachgeschäft noch mal verbal unterstreichen muss, als hätte ich sie nach einem Pümpel gefragt. Wir starren uns gegenseitig an. Das Schweigen zieht sich in die Länge. Nichts passiert. Es hätte nur noch gefehlt, hätte sie mich gefragt: „Und was kann ich dafür?“

Ich beschließe direkter zu werden, denn mit den allgemeinen Anspielungen und Floskeln komme ich hier nicht weiter. „Können Sie mir helfen?“, frage ich und lächele sie zuckersüß an. Vielleicht kann man dem Mädel so die Scheu nehmen.

Tatsächlich löst sie sich aus der Erstarrung und sagt: „Ich glaube, die sind da hinten.“ Sie zeigt mit einem Finger den Gang hinunter. Doch ihre Füße bewegen sich keinen Millimeter. Wahrscheinlich wurde mein Lächeln nun etwas eisig, denn sie lässt resigniert die Schultern sinken und setzt sich in Bewegung. Ich folge ihr.

Hinter der ersten Trennwand bleibt sie freudestrahlend stehen und sagt: „Bitte schön, hier sind Ihre Kopfkissen!“ Vor mir stehen eine Reihe Rollcontainer mir Kisseninletts mit den Maßen vierzig mal vierzig Zentimeter.

Ich bin kurz sprachlos, fange mich aber schnell wieder. „Äh, wissen Sie, wenn ich mein Sofa mit neuen Dekokissen bestücken wollen würde, dann wäre ich hier sicherlich richtig. Aber ich suche ein Kopfkissen. Ich möchte darauf schlafen.“

„Ach, so!“, sagt sie mit einem langgezogenen Unterton, der mir zu verstehen gibt: ‚Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt.‘ Nun gut, vielleicht war ich wirklich etwas vage, ich hätte das mit dem „darauf schlafen“ tatsächlich erwähnen können.

Unser Verständigungsproblem scheint beseitigt, denn die nun überraschenderweise motivierte Verkäuferin eilt zügig drei Reihen voran. Ich folge ihr erneut. Und tatsächlich, hier sind Kopfkissen! Die junge Dame setzt ein breites Gewinnerlächeln auf, so das sogar der kleine Glitzerstein auf ihrem Eckzahn aufblitzt. Ich muss zugeben, ich bin positiv überrascht. Auf zur nächsten Schwierigkeitsstufe! „Jetzt habe ich einen besonderen Wunsch“, setze ich an. Miss Rastalocke, jetzt von ihrem Erfolg, mir das Richtige gezeigt zu haben, beflügelt, schaut mich erwartungsvoll an. „Ich hätte gerne ein halbes Kissen.“

Das strahlende Lächeln wird von echtem Bedauern abgelöst, als sie sagt: „Das tut mir leid. Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen, denn wir verkaufen nur ganze Kissen.“

Ich hole tief Luft, um nicht laut loslachen zu müssen. Dann, als würde ich mich mit einem sehr, sehr jungen Menschen unterhalten, sage ich langsam und betont deutlich: „Es gibt fertige Kissen, die haben eine Größe von achtzig mal vierzig Zentimeter und nicht achtzig mal achtzig. Dazu sagt man auch ‚halbe Kissen‘.“ Ich wedele begleitend mit den Händen in der Luft, um ihr ungefähr die Form zu demonstrieren.

Miss Rasta dreht sich auf dem Absatz um und geht eine Reihe weiter. Ich folge ihr. Darin habe ich mittlerweile Übung. Und endlich, vor mir tut sich eine ganze Reihe Kopfkissen in der Größe von achtzig mal vierzig Zentimeter auf. Wir wirken beide gleichermaßen überrascht, dass sich solche Schätze in diesem Laden auftun können. Es ist für jeden etwas dabei, für den Seitenschläfer, Rückenschläfer, Bauchschläfer, mit Gel-, Schaumstoff oder Daunenfüllung, in einer Preisspanne von fünfzehn bis hundertfünfzig Euro. Wir stehen Schulter an Schulter und lassen unsere Blicke über das umfangreiche Sortiment schweifen.

„So. Ich bin Bauchschläferin“, fange ich wieder an, „habe eine Hausstaubmilbenallergie und der Preis sollte sich im Rahmen halten. Welches Kissen würden sie mir empfehlen?“

Das Mädel zuckt so doll mit den Achseln, dass ihre Zöpfe tanzen, und teilt mir Mitleid erheischend mit: „Ach, wissen Sie, ich bin neu hier.“

„Wirklich?!“ Mein Ausspruch trieft nur so vor Sarkasmus.

Miss Rasta schaut mich mit einem Blick schräg von der Seite an, der mir klar sagen soll: ‚Verarschen kann ich mich allein!‘

Ich hingegen schenke ihr nur ein verschmitztes Grinsen, das sagt: ‚Sorry, aber das konnte ich mir jetzt nicht verkneifen.‘ Was soll ich sagen, Miss Rasta und ich verstehen uns auch ohne Worte. Aber eines muss ich ihr lassen, sie bleibt brav bei mir stehen.

Ich beginne zu referieren, welche Eigenschaften mein Kopfkissen haben muss und warum, wie zum Beispiel, dass man es mit mindestens sechzig Grad waschen können muss und keine Daunen haben darf. Sie nickt, als Zeichen des Verstehens, macht aber keine Anstalten mir suchen zu helfen. Also beginne ich für mich, die einzelnen Schilder über den Produkten durchzugehen. Nach einer kleinen Weile, kommen zwei Kissen in die engere Auswahl. Doch wenn ich nun hoffe, dass die Waren entsprechend unter dem jeweiligen Schild einsortiert wären, dann hatte ich mich zu früh gefreut. In diesem Laden ist so einiges anders und nichts so, wie es sein sollte. Ich wende mich also wieder an die Verkäuferin des Monats, denn die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Vielleicht überrascht sie mich doch noch. „Können Sie mir sagen, wo ich die beiden Kissen finde?“

Kaum, dass ich die Worte ausgesprochen habe, sehe ich auch schon ihren Blick. Ich hätte fast noch hinzugefügt: ‚Nein, ich will Sie nicht verarschen!‘ Aber wir beide verstehen uns mal wieder nonverbal. Ich wende mich somit wieder den Regalen zu und suche allein. Wenigsten waren die Hersteller so schlau und hatten ihre Waren gut leserlich beschriftet. Die wussten wohl warum. Und voila, schon hielt ich meine beiden Kissen in den Händen. Die Verkäuferin zieht die Augenbrauen hoch und schaut mich etwas beeindruckt an. Jetzt kommt nur noch die Drück- und Fühlprobe, dann habe ich es gleich geschafft.

Plötzlich kommt eine Dame, optisch eine klassische Hausfrau aus dem Bilderbuch, Mitte sechzig, auf uns zu. Sie hält etwas in der Hand, das mich irgendwie an eine Mischung aus Flokati und Teewärmer in quietsche grün erinnert. Sie mustert uns beide, aber zum Glück trägt Miss Rasta das blaue Hemd mit der Aufschrift und dem schönen Logo vom Fachgeschäft. Trotzdem sieht sie zwischen uns beiden hin und her. Dann fragt sie das Verkaufsgenie neben mir: „Sagen Sie, sind das die aus dem Prospekt?“

Miss Rasta, die so etwas anscheinend zum allerersten Mal hört, fragt entgeistert zurück: „Welchem Prospekt???“

Ich kann mir gerade noch verkneifen, laut loszulachen. Innerlich schnaubend und breit grinsend wende ich mich an Miss Ich-Bin-Neu-hier und sage: „Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen!“

Völlig irritiert schaut sie zwischen mir und der Frau mit dem Gebilde wie ein geplatztes Sofakissen hin und her und antwortet allen Ernstes: „Gerne.“

Ich schnappe mein Kissen, eile zur Kasse und bin positiv überrascht, dass der junge Mann sich inzwischen von seiner Lektüre getrennt hat und mich gleich abkassiert.

Zurück auf der Straße denke ich, dass das alles in allem ein netter Einkauf war. Ich habe ein Kopfkissen und fahre erheitert und mit guter Laune nach Haus.

Ein Mann mit einer blauen Tasche auf dem Rücken winkt am Straßenrand. Ich halte mit meinem Taxi. Er steigt ein und wirkt ein wenig verlegen. Er nennt mir die Adresse, und ich fahre los.

Der Unbekannte begutachtet mich von der Seite, unschlüssig, was er von mir halten soll. Ich wundere mich etwas über diesen Argwohn, nehme es aber kommentarlos hin. Ich hatte schon genügend seltsame Menschen im Wagen. Da er nicht bedrohlich auf mich wirkt, lächle ich ihn nur kurz an und mache meinen Job. Und plötzlich erzählt er mir seine Geschichte…

Nun bin ich hier. Und ich weiß, warum. Es war so der beste Weg. Hätte die Staatsanwaltschaft noch mehr herausbekommen, wäre diese winzige Chance, doch nicht für länger einzufahren, nicht existent. Ich musste mich selbst stellen.
Kalkulierbares Risiko nennt man so etwas wohl. Ein bis zwei Jahre im schlimmsten Fall. Aber wenn ich wieder rauskomme, bin ich wenigstens kein armer Mann mehr. Und mit ganz viel Glück, reichen die zwölf Wochen Untersuchungshaft und der Rest wird auf Bewährung ausgesetzt. Vielleicht habe ich Glück.

Ich darf nichts mit reinbringen. Aber da es hier alles zu kaufen gibt, außer Alkohol, ist es nicht weiter schlimm. Ich habe mir dreitausend Euro auf mein Haftkonto eingezahlt. Für zwölf Wochen müsste das reichen. Ich bin Raucher, und zwar starker Raucher.

Meine Zellentür öffnet sich, ein Justizbeamter bringt mir mein erstes Essen. Doch ich habe noch gar nicht so großen Hunger, sondern eher einen Schmachter. Ich frage ihn: „Ich brauche Zigaretten oder Tabak. Wie und wo kriege ich das?“

Der Beamte guckt mich an und runzelt die Stirn. „Sie sind doch gerade erst eingefahren, oder?“

„Ja, erster Tag hier.“

Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, doch in der nächsten Sekunde ist nichts mehr davon zu sehen. „Da müssen Sie sich wohl noch etwas gedulden.“

„Wieso? Was soll das heißen?“ Ich verstehe nicht ganz. Oder ich will ihn nicht verstehen.

„Ihnen steht noch kein Geld zur Verfügung“, antwortet er mir ruhig und sachlich.

Ich werde nervös. Er muss sich irren. „Doch, natürlich! Ich habe im Vorweg eine gewisse Summe auf mein Haftkonto eingezahlt.“

Jetzt lächelt er wieder, doch es erreicht seine Augen nicht. Ganz ruhig und gelassen doziert er: „Es tut mir leid, aber der Verwaltungsapparat läuft hier ein bisschen langsamer. In etwa einer Woche bis zehn Tagen wird Ihnen der angewiesene Betrag tatsächlich gutgeschrieben, so dass Sie darüber verfügen können.“ Damit dreht er sich um und verlässt meine Zelle.

Ich stehe da, allein mit meinem Essen. Das metallische Klirren der Schlüssel dringt wie ein Messerstich in mein Bewusstsein. Erst jetzt, nach und nach, kommt das erbarmungslose Verstehen. Ich bin eingesperrt. Allein. Und auf die Hilfe und das Wohlwollen anderer angewiesen. Ich bin mittellos. Außerdem wird mir schmerzlich klar, ich bin Kettenraucher ohne Tabak. Ich bin auf kaltem Entzug. Hiermit beginnt meine tatsächliche Strafe.

Mein dritter Tag hier. Ich habe ein Buch in der Hand, und meine Hände zittern. Eigentlich müsste das Verlangen nach einer Zigarette langsam etwas nachlassen, aber das tut es nicht. Ich versuche mich auf den Text zu konzentrieren. Diese Seite lese ich bereits zum vierten Mal, ohne deren Inhalt aufgenommen zu haben. Ich kann mich nicht konzentrieren. Außerdem habe ich noch nie gerne gelesen. Auf meine Frage, wo denn der Fernseher wäre, welchen ich zu Beginn beantragt hatte, bekam ich nur die Antwort: „Es dauert ungefähr eine Woche, bis die Anträge bearbeitet sind. Erst wenn das durch ist, darf man Ihnen den gewünschten Gegenstand auf die Zelle bringen.“
Eine Woche. Alles dauert hier mindestens eine Woche. Mir ist noch nie so bewusst gewesen, wie lang eine Woche sein kann. Was ist eine Woche? Sieben Tage, mit vierundzwanzig Stunden, mit jeweils sechzig Minuten und diese mit sechzig Sekunden.

Zeit… Man sagte mir vor Haftantritt, das Einzige, was ich von außen mit hineinbringen dürfte wäre eine Uhr. Ich habe aber schon seit Jahren keine mehr getragen, also habe ich darauf verzichtet. Wenn ich wissen wollte, wie spät es ist, habe ich auf mein Handy gesehen. Dieses musste ich beim Einfahren abgeben. Ich hatte gedacht, es würde mich massiv stören, eine längere Zeit ohne Mobiltelefon zu sein. Aber so ist es nicht, denn es gibt etwas, das ist viel schlimmer. Und zwar viel Zeit zu haben, aber kein Zeitgefühl.

Mein Tag besteht aus dreiundzwanzig plus eins. Dreiundzwanzig Stunden Zelle, eine Stunde Freigang im Innenhof. Diese eine Stunde ist gesetzlich vorgeschrieben, die darf mir keiner nehmen, komme was wolle. Eine Stunde raus ins Licht, etwas gehen, auch wenn es nur im Kreis ist. Mir fehlt die Bewegung. In der Zelle kann ich maximal ein paar Liegestütze machen. Und lesen. Und schlafen. Aber ohne Bewegung werde ich nicht müde. Gefühlt schlafe ich am Tag nur wenige Stunden. Das ist dann die schönste Zeit. Vergessen und entspannen. Doch wenn wieder aufwache, dann ist es meistens noch dunkel. Wie lange habe ich geschlafen? Ist es schon morgen? Fängt es gleich an zu dämmern oder ist es noch mitten in der Nacht? Wann öffnet sich die Tür für die nächste Mahlzeit? Das Essen ist widerlich, aber das sind die einzigen Momente am Tag, wo ich mit Sicherheit weiß, wie spät es ist. Zeit… ich habe zu viel davon und kann sie nicht greifen.

Ich denke und bin absolut allein mit meinen Wirrungen. Doch ein Begriff bekommt langsam ein ganz anderes Bild für mich: Bestrafung!

Eine Woche ist vergangen. Ich habe kein Geld und auch keinen Fernseher. Aber ich habe mehr Bücher gelesen, als bisher in meinem gesamten Leben. Es scheint mir manchmal so, als würden die Protagonisten mit mir reden, denn das tut sonst kaum jemand.

Dreiundzwanzig plus eins. In dieser einen Stunde versuche ich mein gesamtes Verlangen nach Geselligkeit zu stillen, doch das funktioniert nicht. Man sollte meinen, dass sich alle Gefangenen sofort aufeinander stürzen, um miteinander zu reden, aber dem ist nicht so. Die meisten bleiben für sich. Viele hängen einfach ihren Gedanken nach und laufen im Kreis.

Plötzlich ist der Schließer an meiner Zellentür. Sie öffnet sich. Ich bin total verwirrt, denn ich bin der festen Überzeugung, dass noch nicht so viel Zeit vergangen ist, es gibt noch kein Essen. Ich lege mein Buch beiseite und stehe von meinem Bett auf. Der Vollzugsbeamte kommt direkt auf mich zu. „Ich habe gute Neuigkeiten für Sie“, sagt er.

Mir schießt sofort durch den Kopf: ‚Irgendetwas ist passiert, ich komme raus!‘

„Wenn Sie mögen, dürfen Sie ab jetzt hier einer Arbeit nachgehen.“

„Ich darf arbeiten?“ Damit habe ich gar nicht gerechnet.

„Ja. Das bedeutet, sie dürfen sich mehrere Stunden am Tag in Ihrem Bereich frei bewegen, um Ihrer Arbeit nachgehen zu können. Ihre Zellentür ist für den Zeitraum offen. Außerdem bekommen Sie so mehr Kontakt zu den anderen Insassen.“

Ich überlege nicht lange und sage: „Das klingt gut. Ich mache es.“

„Gut. Dann unterschreiben Sie bitte dieses Formular. Das ist sozusagen Ihr Arbeitsvertrag. Sie werden für Ihre Tätigkeit mit einhundertachtzig Euro pro Monat entlohnt.“

„Ab wann steht mir das Geld zur Verfügung?“ Ich hoffe, dass es eventuell etwas schneller geht als mit meinem Haftkonto.

„Am Monatsende“, war die ernüchternde Antwort.

Ich zucke nur mit den Achseln, was Anderes bleibt mir nicht übrig. Mir ist klar, ich werde nicht wegen des Geldes arbeiten, aber die Aussicht regelmäßig Kontakt zu anderen und endlich eine Aufgabe zu haben, hätten mich sogar dazu verleiten können, dafür zu zahlen, anstatt Geld zu bekommen.

Ich glaube, das Schlimmste habe ich überstanden. Meine Arbeit ist zwar nicht sonderlich aufregend, aber ich habe eine Aufgabe und bin unter Menschen. Meine Kollegen kennen alle die anfänglichen Probleme, wie es ist ohne Geld, ohne Möglichkeiten, aber mit diversen Bedürfnissen.

„Kein Problem, ich kaufe dir zwei Packungen Tabak. Kannst sie mir wiedergeben, wenn du an deine Kohle rankommst.“

Ich bin so erleichtert. Überschwänglich erwidere ich: „Das ist doch klar! Das wird das erste sein, was ich dann kaufe werde.“

„Du weißt aber schon, nichts ist umsonst, oder?“ Er grinst mich verschmitzt an.

Mir schwant Böses. Vorsichtig frage ich: „Was soll das heißen?“

„Keine Angst. Es wäre nur nett, wenn du noch eine Schachtel für mich drauf packen würdest. Quasi als Zinsen. Du verstehst schon.“

Okay, mit dem Deal kann ich leben. „Geht klar!“

Wenn jemand glaubt, diese ganzen Knast-Sendungen würden nur Mist zeigen, der irrt sich. Es ist eine Tatsache, Zigaretten und Tabak sind die erste Währung. Geld nützt nur bedingt. Und wenn es irgendwann aus der Untersuchungshaft in den Strafvollzug geht, wird das Vermögen stark begrenzt, um eine gewisse Gleichheit unter den Häftlingen herzustellen. Es ist scheißegal, wie viel Geld du vor den Mauern besitzt. Du verdienst einhundertachtzig Euro, wovon du nur siebzig Prozent ausgeben darfst. Die restlichen dreißig Prozent werden von der Anstalt für dich auf einem speziellen Konto angelegt, damit du bei der Entlassung einigermaßen flüssig bist. Die meisten besitzen bei ihrer Entlassung gar nichts mehr. Sollte aber draußen Kapital vorhanden sein, dürfen maximal weitere einhundertfünfzig Euro geschickt werden. Das ist dann das absolute Limit.

Aber es gibt überall Schlupflöcher. Alles was drinnen in der Untersuchungshaft gekauft wird, darf mit in den Strafvollzug genommen werden. Ich stehe in unserem Knastshop. Vor mir ein Mitgefangener, mit dem ich schon häufiger geredet habe. Er sitzt wegen dem Handel mit illegalen Substanzen, die Beamten haben vier Kilogramm Kokain bei im gefunden. Geld spielt bei ihm keine Rolle. Noch! Er hat mehr als drei Jahre bekommen, deswegen fährt er demnächst in „Santa Fu“ ein. Das ist die Justizvollzugsanstalt in Hamburg-Fuhlsbüttel. Dort sitzen die schweren Jungs. Alle unter drei Jahren gehen nach Billwerder.

„Hey, pack nochmal zehn Stangen von denen ein und dann noch zwanzig Packungen Tabak,“ bestellt er großspurig und wedelt dabei mit den Händen, um noch mal deutlich zu machen, was er nun genau kaufen will.

Ich bin verwundert und frage: „Was willst du denn damit? Du rauchst doch gar nicht.“

Er guckt mich an, schmunzelt und antwortet: „Ne, ich nicht, aber viele andere.“

„Und wo lässt du den ganzen Krempel?“ Es war nicht der erste Großeinkauf, den er startete. „Die Zellen in Fuhlsbüttel sind nicht dafür bekannt, dass sie so viel größer sind als die hier.“

Er lacht bei dem Gedanken laut auf und fügt hinzu: „Außerdem würde man mich ständig beklauen. Nein, die Sachen werden dort für mich eingelagert, und bei Bedarf kann ich mir rausgeben lassen.“

Ich bin überrascht, von der Möglichkeit habe ich bisher noch nichts gehört. Aber sonst ist es logisch, Tabak ist hinter Gittern die gängige Währung, er nimmt nur einen Umtausch vor. Und wenn er sich in „Santa Fu“ gut verkaufen kann, dann bestimmt er den Kurs.

Ein Neuer in unserem Block. Er hat seine erste Woche rum und darf ebenfalls arbeiten. Sonderlich glücklich sieht er aber nicht aus. Natürlich sind wir alle Gefangene, aber normalerweise sehen die Neulinge beim ersten Arbeitsantritt erleichtert aus, ihrer Zelle wenigstens für eine Weile entgehen zu können. Und fast alle haben das dringende Bedürfnis zu reden, er nicht. Er hält sich eher etwas abseits und beäugt uns andere extrem misstrauisch.
Neugierig frage ich meinen Kollegen: „Weißt du, warum der sitzt?“

„Keine Ahnung, wegen irgendwelchen kleineren Betrugsdelikte. Er soll nach Billwerder.“

Aha, ein Bruder im Geiste, denke ich. Wir lassen ihn.

Die nächsten zwei Tage kommt er nicht. Dann plötzlich ist er wieder da. Über seinem rechten Auge prangt ein dicker Bluterguss.
Ich ticke meinen Kollegen, der meistens neben mir arbeitet, an und frage: „Was ist denn mit dem passiert?“

„Ich habe gehört, er ist gestürzt“, antwortet er mir mit einem diebischen Grinsen im Gesicht.

Ich glaube ihm kein Wort. „Nein, jetzt mal im Ernst, was ist mit dem passiert?“

„Die Justiz macht so einiges, um manche Leute zu schützen. Zum Beispiel geben Sie einen falschen Haftgrund an, wenn die Leute einfahren. Sie meinen, sie müssten es tun, da ein paar Insassen besonders schützenswert wären. Nein, sagen wir es anders, sie wissen, dass einige mehr Schutz bräuchten, wenn bekannt werden würde, was sie tatsächlich getan haben. Sie manipulieren quasi die Haftpapiere. Nur die Beamten wissen was Sache ist. Doch unter denen gibt es zum Glück mehrere, die einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit haben. Man kann sich schließlich mal versprechen, oder?“ Er zwinkert mir verschwörerisch zu.

„Aha, ich verstehe“, bin ich jedenfalls der Annahme. „Und was hat er nun gemacht.“

„Unzucht mit Minderjährigen. Er ist ein Kinderschänder.“

Sofort sehe ich den Typen mit anderen Augen und bedauere ein wenig, dass er nicht mehr abbekommen hat als ein Veilchen.

Am nächsten Tag erscheint er wieder nicht zur Arbeit. „Hey, wo ist denn der mit der Vorliebe für kleine Kinder?“

„In Isolationshaft. Ich habe gehört, es ginge ihm nicht so gut.“

Allgemeines Gelächter um uns herum. Ich stimme mit ein.

Die Tage und Wochen vergehen zähflüssig wie Sirup im Winter. Jeden Tag die gleiche Routine. Elf Wochen, siebenundsiebzig Tage, eintausendachthundertachtundvierzig Stunden. Heute kommt mein Anwalt. Ich hoffe, er bringt gute Neuigkeiten.

Endlich werde ich vom Schließer gerufen, ich soll in den Besprechungsraum. Mein Anwalt wartet schon. Als ich eintrete, springt er auf, kommt mir ein paar Schritte entgegen und begrüßt mich mit den Worten: „Ich habe etwas Positives zu berichten. Die Staatsanwaltschaft hat entschieden, einer Freisetzung auf Kaution zuzustimmen. Ich habe den entsprechenden Antrag eingereicht. In einer Woche sind alle Formalitäten durch, dann dürfen Sie vorerst raus.“

Ich kann mein Glück kaum glauben. Dennoch frage ich vorsichtig: „Mit welchen Auflagen?“

„Sie müssen sich jeden Tag bei Ihrer Polizeidienststelle melden, damit die sehen, dass Sie sich nicht dem Verfahren entziehen wollen. Sollten Sie es einmal versäumen, aus welchen Gründen auch immer, wird sofort der Haftbefehl wieder in Kraft gesetzt.“

„Damit kann ich leben, Hauptsache ich komme hier raus.“

„Sie wissen, dass sie aber noch nicht auf der sicheren Seite sind?“ Mein Anwalt sieht mich ernst an. „Es stehen immer noch bis zu zwei Jahre im Raum. Natürlich werde ich alles mir mögliche versuchen, um das Ganze abzuwenden. Aber es ist leider noch nicht vorbei.“

„Ich weiß. Aber ich weiß auch, warum ich hier bin. Dennoch hoffe ich.“

Zwölf Wochen, vierundachtzig Tage, zweitausendsechzehn Stunden. Obwohl die letzte Woche gefühlt länger war, als die elf davor. Nein, falsch, die erste Woche war immer noch am Schlimmsten. Aber das Warten auf die Freiheit, wenn man so kurz davorsteht, ist extrem.

Nun sind die letzten Minuten angebrochen. Mein Anwalt ist unten und zahlt das Geld in die Kautionskasse ein. Ich packe inzwischen die blaue Tasche, mit der ich eingefahren bin.

Plötzlich geht es schnell. Der Schließer holt mich ab, ich werde an andere Justizbeamte weitergereicht und schon stehe ich mit meinem Anwalt draußen vor dem Tor. Ich bin frei! Und fühle mich total überfordert.

Mein Anwalt zeigt die Straße hinunter und sagt: „Hinter der nächsten Ecke links ist ein Taxiposten, sonst ein Stückchen weiter beim Hotel.“

Ich nicke nur.

Er schüttelt mir die Hand und gibt mir noch mit auf dem Weg: „Viel Glück und vergessen Sie nicht, sich bei Ihrer Polizeidienststelle zu melden. Sonst sind Sie heute Abend schon wieder hier.“

„Ja, ich verstehe.“

Natürlich waren beide Taxiposten leer. Jetzt stehe ich hier mit meiner blauen Tasche, bin frei und weiß nicht weiter. Ich muss zur Bank, zur Polizei, in meine Wohnung und dann zu meinen Eltern.

Ich habe zwei kleine Hunde, zwei Malteser, meine Eltern haben sie vorübergehend bei sich aufgenommen. Aber das war nur eine Notlösung. Ich dachte, ich hätte sie damals in gute Hände gegeben. Aber nach ungefähr einer Woche hat sich diese Person bei meinen Eltern gemeldet und pro Monat eintausend Euro verlangt, wenn sie sich weiterhin um die Tiere kümmern soll. Meine Eltern sind hin und haben sie kurzerhand abgeholt. Was ich mit den beiden mache, sollte ich tatsächlich für zwei Jahre einfahren, weiß ich noch nicht genau. Ich möchte sie nicht verlieren. Aber um das Problem kümmere ich mich, wenn es soweit ist. Sie geben einem schließlich circa drei bis vier Monate, um persönliche Dinge vor dem Haftantritt zu regeln.

Oh, da kommt ein Taxi! Vielleicht habe ich Glück und es hält, wenn ich winke.

… die Fahrt ist zu Ende. Es kommt mir ein wenig so vor, als würde ich aus einer anderen Welt auftauchen. Er mustert mich immer noch von der Seite, aber lächelt nun dabei.

Er bezahlt den Fahrpreis und gibt mir ein gutes Trinkgeld.

Ich nehme die Summe entgegen und sage: „Vielen Dank für die nette Fahrt!“

Er sagt: „Nein, ich habe zu danken. Es war so schön, endlich wieder mit einem Menschen zu reden.“

Ich habe nur eine vage Vermutung, welche tiefere Bedeutung tatsächlich hinter diesen Worten steckt.